Die Liebe ein Zahlenspiel

Saturday, November 5, 2016

Laura sitzt in der Wiener U-Bahn. Auf ihrem Schoß liegt ein Smartphone. Der dunkelrote Nagellack zieht den Blick auf ihren Zeigefinger, mit dem sie auf dem Bildschirm hin und her wischt. Alex, 24. Fünf Kilometer entfernt. Auf dem Profilfoto ein Mann mit nacktem Oberkörper. Der Bizeps wirkt beunruhigenderweise größer als der Kopf. Laura wischt nach links. Der Muskelprotz verschwindet, es folgt das nächste Bild. Florian, 26. Zwei Kilometer entfernt. Die Profilbeschreibung: „Ich suche hier keine Beziehung. Tinder dient mir lediglich zur Beschäftigung, wenn ich aufs WC gehe.“ Laura wischt nach links. Philipp, 26. Vier Kilometer entfernt. Das Foto wurde bei Sonnenuntergang gemacht, der Mann darauf lächelt. Unter dem Bild beschreibt er sich als leidenschaftlichen Koch. Laura wischt nach rechts. Tristan, 25. Drei Kilometer entfernt. Auf dem Bild ein Mann mit geschminktem Gesicht und Mickey-Mouse-Ohren. Laura seufzt und verdreht die Augen. Sie wischt nach links.

Laura ist eine von österreichweit 350.000 Nutzern der Online-Dating Plattform Tinder. Die App wächst rasant und ist als vermeintliches Zeichen der Zeit in aller Munde. Doch am österreichischen Markt, der im Jahr 2015 immerhin 18 Millionen Euro schwer war, ist Tinder bei Weitem nicht der einzige Anbieter. Hier dominieren nach wie vor hochpreisige, sich als seriös positionierende Anbieter wie Parship oder ElitePartner. Diese sind zwar kostenpflichtig, versprechen dafür aber auch höhere Chancen auf eine ernsthafte Beziehung und sind vor allem bei Singles über 30 beliebt. Insgesamt nutzen etwa 690.000 Österreicher und Österreicherinnen klassische Online-Dating Plattformen. Das sind immerhin mehr als 40% der 1,6 Millionen Singles im Land. Ein Rückgang der Branche ist derzeit nicht zu befürchten. Besonders die wachsende Beliebtheit mobiler Anwendungen beflügelt laut Marktanalyse das Geschäft.

Online-Dating ist längst zum weltweiten Massenphänomen mutiert, das auch ein dementsprechendes Interesse der Sozialwissenschaften auf sich zieht. Laut einer umfassenden Analyse von Forschern der Northwestern Universität (USA) hat der Trend zum Kennenlernen im Netz das menschliche Sozialverhalten auf gesamtgesellschaftlicher Ebene maßgeblich verändert, und zwar nicht nur zum Guten. Online-Dating habe seinen Nutzern zwar einen Zugang zu einer enormen Menge an Menschen ermöglicht, den sie abseits der digitalen Welt kaum herstellen könnten, erklären die Autoren. Außerdem erlaube es die Kommunikation über das Internet, noch vor dem tatsächlichen Kennenlernen einen ersten Eindruck vom Gegenüber zu gewinnen. Doch diese Bequemlichkeit und Effizienz würden eine eindeutige Kehrseite aufweisen. Online-Dating Profile würden dreidimensionale Menschen auf zweidimensionale Informationsdarstellungen reduzieren. Diese Darstellungen würden den Erlebniswert sozialer Interaktionen nicht einfangen, der aber essenziell sei, um die Kompatibilität mit potenziellen Partnern einzuschätzen, argumentiert das US-amerikanische Forscherteam. Außerdem könne der Zugang zu einem de facto unbegrenzten Vorrat an Menschen eine evaluierende, urteilende Denkweise hervorrufen. Potenzielle Partner würden dadurch eher objektifiziert, der Bindungswille untergraben und die Wahrscheinlichkeit, schlecht durchdachte oder überstürzte Entscheidungen zu treffen, erhöht. 


Und so wird aus der Liebe ein Zahlenspiel, bestimmt durch Nutzerzahlen, Übereinstimmungsprozentsätze, Attraktivitätswertungen. OkCupid verspricht seinen Nutzern mathematikgestütze Dates. Nobelpreisgekrönte Verhaltensökonomen wie Dan Ariely veröffentlichen algorithmenbasierte Formeln, um die Stabilität eines Online-Matchings statistisch vorherzusagen. Hinter Online-Dating steckt mittlerweile eine eigene Wissenschaft, die allerdings möglicherweise auf falschen Annahmen beruht. Die Prinzipien, auf denen die Algorithmen meist aufbauen, nämlich Ähnlichkeit und Komplementarität, sind für den Erfolg einer Beziehung weit weniger ausschlaggebend, als lange Zeit angenommen, belegt die Forschung.

Manche Beobachter begründen den Online-Dating Boom nicht nur durch das unaufhaltbare Voranschreiten der Technik, sondern sehen darin den digitalen Beleg für die Beziehungsunfähigkeit einer gesamten Generation. Optimierungswahn und überfordernde Wahlfreiheit schwirren als Schlagwörter durch die Lifestyle-Magazine, Bücher mit Titeln wie „Generation Beziehungsunfähig“ toppen die Bestsellerlisten. 2015 lebten in Österreich 287.000 Menschen zwischen 20 und 35 in einem Ein-Personen Haushalt – das sind knapp 20% der Altersgruppe. Dabei sind innige Beziehungen von grundlegender Bedeutung für unser emotionales Wohlbefinden. Das Bedürfnis danach wird uns laut Psychologen in die Wiege gelegt. Und auch heute sucht der Großteil der Menschen noch solche Beziehungen. Das bezeugt die stetige Beliebtheit von Parship, eHarmony und ähnlichen Anbietern, die ihre User schließlich mit genau jenem Versprechen locken.

Doch warum dann trotzdem die vieldiagnostizierte Bindungsangst des Einzelnen? „Weil wir uns von der vermeintlichen Vielfalt täuschen lassen und insgeheim hoffen, der nächste Kandidat wäre noch näher dran am Ideal“, schreibt Beziehungscoach Eric Hegmann. Online-Dating gaukelt uns diese Vielfalt natürlich ganz besonders gekonnt vor. Gleichzeitig versichert Hegmann aber auch, der Wunsch nach Nähe und Liebe sei unverändert stark. 

Bei Laura hat sich dieser Wunsch noch nicht wirklich bemerkbar gemacht. Eigentlich will sie nur neue Leute kennenlernen und ein bisschen Spaß haben, sagt sie lachend. Und wischt weiter. 

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